Die Pharmazeutische Fabrik Dr. Reckeweg befindet sich nach einem unsicheren Corona-Frühjahr wieder auf Kurs
Bensheim. Lockdown in Indien, Ausgangssperren in Italien – und damit die beiden wichtigsten Absatzmärkte durch die Corona-Pandemie im Ausnahmezustand. Die Pharmazeutische Fabrik Dr. Reckeweg & Co. GmbH stand im Frühjahr plötzlich vor ungeahnten Herausforderungen. „Hinzu kam, dass es auf den Schiffen nicht geügend Frachtraum gab und der Flugverkehr stark eingeschränkt wurde“, blickt der Geschäftsführende Gesellschafter Michael Reckeweg zurück. Für ein Unternehmen mit einer Exportquote von 90 Prozent eigentlich eine fatale Gemengelage. Die Mitarbeiter mussten deshalb zunächst in Kurzarbeit, die Aufträge gingen zurück und eine seriöse Einschätzung der Lage gestaltete sich schwierig. Das hat sich inzwischen geändert. Aus der Pandemie im Frühling ist zwar mittlerweile eine Pandemie im Spätsommer geworden. Der Familienbetrieb hat aber wieder eine Perspektive. „Letztlich kommen wir wohl relativ gut durch die Krise“, so Reckeweg. Im indischen Hauptmarkt laufen die Geschäfte wieder, Bangladesch und für die Verantwortlichen überraschend auch Kanada zählen ebenfalls zu Umsatzbringern. Den Planansatz für 2020 werde man nicht erreichen, „wir gehen von zehn Prozent unter Vorjahr aus“, erläutert der Geschäftsführer im Gespräch mit dieser Zeitung. Wenn es so kommt, könne man zufrieden sein. Natürlich wisse man in Zeiten eines unberechenbaren Virus nicht, was in zwei, drei Monaten ist. „Aber einen zweiten Lockdown in Indien kann es meiner Einschätzung nach kaum geben“, betont Michael Reckeweg. Nachdem auf dem Subkontinent das Leben wieder langsam angelaufen ist, „kamen von dort fast mehr Bestellungen, als wir ausliefern konnten“. Im Krisenmodus befindet sich die Firma demnach nicht, wenngleich man zwei, drei Monate, in denen man zurückfahren musste, nicht einfach aus dem Handgelenk schütteln und aufholen könne. Zugute kommt dem Hersteller homöopathischer Arzneimittel, dass man im vergangenen Jahr „ein sehr gutes Ergebnis“ erzielt hat. Die Zahl der Mitarbeiter bleibt mit 220 nicht nur auf dem Niveau von 2019, sie soll vor allem im nächsten Jahr erhöht werden. „Es sind Einstellungen geplant“, bestätigt Geschäftsführerin Marita Reckeweg.
Im Zeitplan geblieben
Ausreichend Platz für Wachstum gibt es ab Januar. Dann soll das neue Werk bezugsfertig sein. 33 Millionen Euro haben die Reckewegs investiert, trotz Corona-Krise blieb man im Zeitplan und Kostenrahmen. „Da sind wir schon stolz drauf“, bemerkt das Ehepaar, verbunden mit einem Lob an Schwiegersohn David Reckeweg-Lecompte, der darauf ein Auge gehabt habe. Mit der Produktionsstätte einschließlich Logistikzentrum und Hochregallager verfügt die Firma künftig nach eigener Einschätzung über eines der modernsten Pharmawerke in Deutschland. Im Neubau setzt der Mittelständler auf kurze Wege, die Abläufe sollen optimiert werden. Auf diesen Teil legt Prokurist Michael Münch, seit 30 Jahren in der Firma und mit der Planung betraut, großen Wert. „Theoretisch können wir im Drei-Schicht-Betrieb produzieren, es kommt sich niemand mehr in die Quere.“ Bei der Gestaltung der Innenräume hat man viel Wert auf Transparenz und helle Räume gelegt. „Sie können praktisch fast durch das ganze Werk schauen“, veranschaulicht Michael Reckeweg. Auf zwei Etagen können wie bisher Tinkturen und Säfte gemischt sowie Tabletten abgefüllt werden – nur mit deutlich erweiterten Kapazitäten. Die technisch ausgeklügelten Rein- und Werkschutzräume zählen zu den Herzstücken der Anlage. Dass in Bensheim etwas Besonderes im Entstehen ist, hat sich längst bundesweit herumgesprochen. Initiativbewerbungen von hoch qualifizierten Fachkräften sind keine Seltenheit, Anfragen aus der Industrie nach Mietflächen liegen vor. Ob das ein Modell sein könnte, hängt auch davon ab, wie hoch die eigene Auslastung sein wird. Mit der Erweiterung des Produktportfolios um medizinisches Cannabis (wir haben berichtet) sollen neue Märkte erschlossen werden. Im neuen Produktionsgebäude sind deshalb drei „Bunker“ integriert, die höchsten Sicherheitsanforderungen genügen – dicke Wände, Durchgangsschleusen, 80 Kameras und ein alarmgesichertes Abwehrsystem mit direktem Draht zur Polizei. Weil Cannabis unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, „sind die Vorgaben und Kontrollen scharf, es braucht etliche Sondergenehmigungen“, weiß der Seniorchef. Mit dem Umzug, der ab Herbst schrittweise angegangen wird, läutet man die letzte Phase des Großprojekts ein. Auch wenn die Baustelle das eine oder andere Mal Nerven gekostet hat, „sind wir nicht unzufrieden“, bilanziert Reckeweg und hebt die gute Zusammenarbeit mit der Firma Leonhard Weiß als Generalunternehmer hervor. Für die Zukunft sehen die Verantwortlichen die Pharmazeutische Fabrik nun sehr gut aufgestellt. Zumal die gesellschaftliche Akzeptanz alternativmedizinischer Heilmittel trotz aller öffentlicher Debatten hoch ist.
![]() Im 20 Meter hohen Hochregallager können künftig bis fast unter die Decke |
Zahlen und Daten
• Der Neubau der Firma Reckeweg setzt durchaus Maßstäbe – was man auch anhand der Zahlen ablesen kann.
• Das Hochregallager hat eine Höhe von 20 Metern. Auf einer Fläche von 1240 Quadratmetern haben 4000 Euro-Paletten Platz.
• Insgesamt stehen im neuen Werk 11 025 Quadratmeter mehr zur Verfügung als bisher. „Wir haben uns quasi vervierfacht“, erklärt Geschäftsführer Michael Reckeweg.
• Die Klima- und Lüftungsanlage hält bei Temperaturen von minus zwölf bis plus 41 Grad die Raumtemperatur auf 19 bis 21 Grad konstant. Pro Stunde werden mehr als 133 000 Kubikmeter Luft angesaugt, gefiltert, entkalkt, befeuchtet und ausgetauscht.
• Im Untergeschoss wurde ein 700 Quadratmeter großer Raum angelegt, der einen Löschwassertank mit 1500 Kubikmeter Wasser beinhaltet – und im Notfall die Sprinkleranlage versorgt.
• 1,17 Millionen Kilogramm Baustahl wurden nach Angaben von Prokurist und Chefplaner Michael Münch für das Gebäude benötigt.
• Das mehrgeschossige Produktionsgebäude hat eine Fertigungsfläche von 6331 Quadratmetern, der angeschlossene Logistikbereich weist 1690 Quadratmeter auf.
• Der Neubau steht auf 303 Pfählen, die bis zu einer Tiefe von 17 Metern ins alte Neckarbett mit seinen Torflinsen gerammt werden mussten.
• In den Reinräumen musste alles verfugt werden – alle Fugen aneinandergereiht käme man auf eine Länge von 50 Kilometern.
• Der Umzug im Winter stellt planungstechnisch eine große Herausforderung dar. Unter anderem müssen die Anlagen mit einem Kran ins Gebäude gehoben werden.
• Zur Ausstattung zählen unter anderem eine zehn Meter lange Abfüll- und eine 15 Meter lange Verpackungsanlage. Pro Minute können nach der Fertigstellung 200 Flaschen à 200 Tabletten abgefüllt werden.
• Abgesehen von der Produktion und dem Versand – Lkw können über vier Tore anliefern und abholen – wurden auf der oberen Etage auf einer Fläche von 754 Quadratmetern Büros nach modernen Standards geplant.
• Die Pharmazeutische Fabrik Dr. Reckeweg & Co. GmbH wurde 1947 in Herford/Ostwestfalen gegründet. Seit 1955 ist das Unternehmen in Bensheim ansässig.
• Mit dem Einstieg der Töchter von Michael und Marita Reckeweg, Natalie und Annabel, sowie Schwiegersohn David Reckeweg-Lecompte hat die Firma ihren vierten Generationswechsel vollzogen. dr
© Bergsträßer Anzeiger, Dienstag, 01. September 2020, Autor: Dirk Rosenberger: https://www.morgenweb.de/bergstraesser-anzeiger_artikel,-bensheim-innovativer-neubau-als-krisen-medizin-_arid,1681507.html